Das Märchen vom Großen Bären  (Tilde Michels)

Bärlinde wird Gustavs Frau werden und nimmt von allen am Petzbach Abschied. Endlich sind sie und Gustav und die drei Wanderbären auf dem Weg zu Gustavs Bärenhaus.
„Na, was haben wir dir gesagt?" ruft Mocke. „Ist das Wandern nicht schön?"
„Es hat sich gelohnt", brummelt Gustav. „Es hat sich wirklich gelohnt." Er fühlt sich so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Bärlinde geht an seiner Seite. Vor ihnen hopsen die drei kleinen Bären durch das frühlingsgrüne Land.
Gegen Abend setzen sie sich auf einen Hügel unter eine alte Buche. Der Himmel färbt sich rot von der untergehenden Sonne. Dann legt sich die Dämmerung über Wiesen und Wälder. Hoch über ihnen gehen die Sterne auf. Bärlinde lehnt ihren Kopf an Gustav, und Gustav legt ihr seinen Arm um die Schulter. Da huscht ein Schatten über sie hinweg und schlüpft in die Zweige der Buche. Es ist eine Eule, die in einem Astloch ihre Wohnung hat.

Als sie die fünf Bären unter der Buche entdeckt, schwingt sie sich auf einen Ast genau über ihren Köpfen. „Sieh da, Nachtwanderer", sagt sie. „Auch ich liebe die Dunkelheit. Die Nacht ist schön und voller Geheimnisse."
„Und voller Sterne", sagt Bärlinde.
Die Eule sucht mit ihren runden Augen den Himmel ab. „Da oben steht euer Sternbild, der Große Bär. Wisst ihr eigentlich, wie er an den Himmel gekommen ist ?"
Das weiß keiner von ihnen.
„Gibt es darüber eine Geschichte?" fragt Bärlinde.
„Eine wunderschöne Geschichte", erwidert die Eule, und sie erzählt das Märchen vom Großen Bären: „Es waren einmal ein Bär und eine Bärin, die wollten so gern ein Kind haben.
Die Bärin sagte: ,Es soll aber ein besonderes Kind werden. Es soll schöner sein als alle anderen Bären.’
Sie dachte bei Tag und Nacht an nichts anderes. Und als das Bärenkind geboren wurde, war es wirklich das schönste, das man sich denken konnte. Es hatte ein weiches, seidiges Fell, und statt der Krallen aus Horn hatte es an allen vier Tatzen Krallen aus purem Gold. Die Eltern waren stolz auf ihr Kind und zeigten es überall herum. Aber den anderen Bären gefiel es ganz und gar nicht. ,Goldene Krallen - zu was sollen die gut sein ?’ sagten die einen. ,Mit goldenen Krallen kann er nicht graben, nicht schaben und auch sonst keine Bärenarbeit verrichten.’
,Ein seidiges Fell - zu was soll das gut sein?’ sagten die anderen. ,Wenn er sich damit an Bäumen wetzt, dann ist’s gleich zerfetzt.’
Und weil ihn niemand mochte, blieb der kleine Bär mit den goldenen Krallen einsam. Wenn er mit den andern spielen wollte, kniffen sie ihn in sein schönes Fell und jagten ihn weg.
Auch als er groß geworden war, wollten die Bären nichts mit ihm zu tun haben. ,Der will etwas Besseres sein !’ sagten sie.
Aber das stimmte gar nicht. Der Bär mit den goldenen Krallen wäre viel lieber ein ganz gewöhnlicher Bär gewesen. Er gab sich große Mühe, alles genauso zu machen wie die andern, aber es nützte ihm nichts. Da beschloss er, in die Welt zu ziehen. Er wollte sich einen Freund suchen, der zu ihm passte. Aber auch in der weiten Welt fand er keinen. Alle sagten: ,Der ist nicht wie wir. Den können wir nicht gebrauchen.’ Der Bär mit den goldenen Krallen wanderte über die ganze Erde, und eines Abends kam er ans Ende der Welt. Er ging bis an den äußersten Rand eines Felsens, der über den Abgrund ragte.
,Wohin soll ich jetzt noch gehen ?’ fragte er sich. Da rauschten mächtige Flügel über ihm, und ein Adler kreiste um den Felsen. Der Adler aber hatte goldene Krallen - genau wie er. Und er hatte Federn, die genauso schimmerten wie das seidige Fell des Bären. ,Wer bist du, woher kommst du ?’ rief der Bär.
Der Adler ließ sich neben ihm auf dem Felsrand nieder. ,Ich bin dein Freund’, sagte er, ,und ich will dich zu den anderen bringen.’
,Zu welchen anderen?’ fragte der Bär.
Der Adler hob den Kopf und zeigte zum Himmel. ,Sieh nur genau hin! Da ist der Löwe, er hat goldene Krallen wie du und ich. Dort ist der Stier mit den goldenen Hörnern, dort die Fische mit schimmernden Schuppen, der Krebs mit goldenen Scheren und viele andere. Es ist noch Platz für dich. Komm mit!’
Dem Bären schlug das Herz laut vor Glück. Endlich hatte er Freunde gefunden, die so waren wie er.
Dann aber blickte er sich um und sah den Abgrund unter sich. ,Wie kann ich hinauf an den Himmel kommen ?’ rief er. ,Ich kann doch nicht fliegen wie du !’ Der Adler aber antwortete: ,Du kannst es, denn du stehst am Rand der Welt. Hier ist der Himmel überall - über dir und unter dir.’
Da schloss der Bär die Augen und tat einen weiten Sprung. Er spürte, dass er schwebte. Und als er die Augen wieder öffnete, befand er sich in einem unendlich weiten, blauen Raum mit funkelnden Sternen.
Die Bären auf der Erde aber wunderten sich, als es am Himmel plötzlich zu schimmern und zu glänzen begann. Es war, als ob ein neues Licht aufgegangen wäre. Sie blickten empor, und da sahen sie einen Bären aus leuchtenden Sternen hoch oben am Himmelszelt.
Und seitdem", schließt die Eule ihre Geschichte, „steht er da oben, der Große Bär."
Eine Weile bleibt es ganz still. Bärlinde schmiegt sich enger an Gustav. Cilli, Bim und Mocke sitzen stumm daneben. Alle blicken zum Sternbild des Großen Bären hinauf, und es ist ihnen richtig feierlich zumute.
Aber allzu lange ist es den drei Wanderbären nie feierlich. Mocke springt als erster auf. Er ruft: „Schön war das. Und jetzt geht’s weiter !"
Da stehen auch die anderen auf und machen sich bereit. Die Eule blinkert mit ihren großen Augen zum Abschied. Die Bären winken zurück und wandern in die Nacht hinein.
Ganz leise stimmt Cilli die Wanderbären-Melodie an. Und dann singen sie zusammen eine neue Strophe vom Großen Bären:

„Der Große Bar am Himmelszelt,
der Große Bar am Himmelszelt,
am Him-mels-zelt,
der wandert mit uns durch die Nacht,
hat immer über uns gewacht,
denn wir sind seine Brüder,
ja Brü-ü-der."

 

Aus: Mein Buch der Gutenachtgeschichten, Hrsg. von Sabine Scheuler, Ravensburger Buchverlag 1996